In seinem 2025 erschienenen Roman
La realidad difusa („Die diffuse Realität“) entwirft der galicische Autor
Alberte Momán Noval ein schonungsloses, beklemmendes Porträt einer Welt, in der Wahrnehmung manipuliert, Moral aufgelöst und das menschliche Bewusstsein zur letzten Ware geworden ist.
Es ist ein Roman, der wie eine Mischung aus dystopischem Bericht, politischer Anklage und sozialer Fallstudie wirkt – ein Werk, das den Leser zwingt, die Gegenwart neu zu betrachten: nicht als stabilen Raum der Realität, sondern als flackernde Projektion aus Macht, Medien und Angst.
Realität als Geschäft
Schon die Eröffnungsszene ist ein Schock. „Realitäten zu erschaffen ist keine besonders schwierige Aufgabe“, erklärt eine namenlose Stimme. Sie gehört einem „Realitätskonstrukteur“, einem Spezialisten, der für Parteien, Konzerne und Militärs psychologische Welten entwirft – digitale Kulissen, die Stimmungen und Meinungen lenken sollen.
Mit der Kälte eines technischen Handbuchs beschreibt der Erzähler, wie man Wählerwünsche manipuliert, Feindbilder erzeugt und Kriege rechtfertigt. Realität ist hier kein gemeinsamer Boden mehr, sondern ein Produkt, das man bestellt, bezahlt und konsumiert.
Momán verwendet in diesen ersten Seiten keine futuristischen Bilder, keine Roboter oder Supercomputer. Alles bleibt erschreckend nah an der Gegenwart. Was er beschreibt, könnte ebenso gut aus den Labors der heutigen Kommunikationsstrategen stammen: die algorithmische Steuerung von Wahrnehmung, das Marketing des Gefühls, die politische Simulation von Authentizität.
Diese Kälte, diese präzise Analyse des Machbaren zieht sich durch den ganzen Roman: La realidad difusa ist keine Science-Fiction, sondern eine Parabel über die Gegenwart, die längst Zukunft geworden ist.
Der Fall des Tersites
Im Mittelpunkt steht Tersites de Agrio, ein suspendierter Polizist, dessen Name an die gleichnamige Figur der griechischen Mythologie erinnert – den hässlichen, zynischen Soldaten aus Homers Ilias, der es wagte, die Obrigkeit zu kritisieren. Auch Mománs Tersites wird bestraft, weil er zu viel sieht: Er deckt Korruption und Machtmissbrauch innerhalb einer privatisierten Polizeieinheit auf – und verliert daraufhin alles.
Sein Weg führt von der Entlassung in die soziale Isolation, von der Isolation in die Verelendung. Der einstige Beamte wird zum Tagelöhner, zum Gelegenheitsprostituierten, zum Opfer der eigenen Wahrnehmung.
Momán erzählt diesen Abstieg ohne melodramatische Übertreibung. Er beobachtet mit fast dokumentarischer Nüchternheit, wie Tersites seine Umgebung zunehmend als instabile Kulisse erlebt. Selbst triviale Bedürfnisse – Hunger, Lust, Angst – erscheinen ihm manipuliert. Eine Werbebotschaft in seinem Kopf zwingt ihn, ein Schokogebäck zu kaufen; eine scheinbar zufällige Erinnerung löst körperliche Reaktionen aus.
Der Mensch wird hier nicht durch Gewalt unterworfen, sondern durch die Kontrolle seiner Begierden. Tersites’ Kampf um Autonomie – sein verzweifelter Versuch, sich selbst zu gehören – bildet den tragischen Kern des Romans.
Prekäre Leben
Im zweiten Teil, Precariedad („Prekarität“), öffnet Momán den Blick auf das soziale Umfeld seines Helden. Tersites zieht bei Etra ein, einer älteren Frau, die von einer mageren Rente lebt. Ihre Wohnung ist klein, aber voller Wärme; sie kocht, pflegt, tröstet. Zwischen beiden entwickelt sich eine merkwürdige Beziehung: halb Freundschaft, halb Ersatzfamilie, halb emotionale Abhängigkeit.
Etra erinnert an jene stillen Heldinnen der europäischen Nachkriegsliteratur – Frauen, die trotz Armut und Einsamkeit Würde bewahren. Doch Momán zeichnet sie nicht idealisiert. Sie ist verletzlich, erschöpft, zugleich aber Trägerin einer tiefen Menschlichkeit, die im Rest der Gesellschaft verloren scheint.
Der Autor zeigt mit schneidender Präzision, wie Prekarität mehr ist als ökonomische Not. Sie betrifft auch Gefühle, Sprache, Zeit. Tersites arbeitet gelegentlich als Sexarbeiter, um zu überleben. Etra duldet es, zieht sich zurück, wenn er Kunden empfängt. Ihre Koexistenz ist von Scham und Empathie zugleich geprägt.
Diese Passagen gehören zu den stärksten des Buches. Momán schreibt hier fast dokumentarisch, aber mit poetischem Unterton. Kleine Gesten – das Schälen einer Karotte, das Austeilen des letzten Stücks Brot – werden zu Symbolen der Würde. Und doch schwebt über allem die Gewissheit, dass auch diese fragile Harmonie bald zerbrechen wird.
Gewalt als Echo
Es kommt, wie es kommen muss: Aus Frustration, Erniedrigung und Schuld entsteht Gewalt. In einer Szene von erschütternder Direktheit vergewaltigt Tersites die Frau, die ihn aufgenommen hat.
Momán beschreibt diese Tat nicht voyeuristisch, sondern mit klinischer Distanz. Gerade diese Kälte macht den Moment unerträglich. Es ist keine Explosion sexueller Leidenschaft, sondern der Ausdruck völliger Entfremdung – ein Akt, der zeigt, wie tief Gewalt in die soziale Struktur eingesickert ist.
Etra reagiert nicht mit Hass, sondern mit einer Art resignierter Stille. Sie sperrt sich im Bad ein, wäscht sich, schweigt. Tersites flieht in die Nacht, überwältigt von Scham und Selbstverachtung.
An dieser Stelle zeigt sich Mománs Mut: Er zwingt den Leser, in der Grauzone zu verweilen, wo Täter und Opfer keine klaren Rollen mehr spielen. Gewalt erscheint nicht als moralische Ausnahme, sondern als Rückkopplung eines Systems, das Menschen zu Objekten gemacht hat.
Die Macht und ihr Körper
Das Kapitel Infra penalidades („Unterhalb der Strafe“) spiegelt diese Gewaltstruktur auf anderer Ebene. Tersites wird von seinem ehemaligen Vorgesetzten vorgeladen, einem Kommissar, der ihn paternalistisch zurechtweist – und ihn dann sexuell missbraucht.
Die Szene wiederholt die Dynamik der vorherigen Tat, aber aus umgekehrter Perspektive: Der Täter von gestern wird selbst Opfer. Damit legt Momán die Mechanik der Macht offen: Sie funktioniert nicht vertikal, sondern zirkulär. Jeder, der Teil des Systems ist, reproduziert es, bewusst oder unbewusst.
Momán schreibt diese Passagen mit einer Mischung aus politischem Zorn und literarischer Präzision. Kein Satz ist überflüssig, kein Detail zufällig. Die Gewalt ist nicht spekulativ, sondern strukturell – sie entspringt den Hierarchien von Arbeit, Geschlecht, Klasse.
Hier erinnert La realidad difusa an die düsteren Visionen von Michel Houellebecq, aber ohne dessen Zynismus. Momán urteilt nicht, er beobachtet. Und gerade diese Haltung verleiht seinem Text moralische Wucht.
Körper als Ware
Im weiteren Verlauf verschiebt sich der Ton. Der Roman wird essayistischer, philosophischer. Sex wird nicht mehr nur als individuelle Handlung dargestellt, sondern als Währung des Überlebens.
In heruntergekommenen Bars, auf Parkplätzen und in Industriebrachen verhandeln Männer und Frauen ihre Körper wie Waren auf einem Schwarzmarkt. Momán beschreibt diese Szenen mit einer fast ethnographischen Genauigkeit. Es gibt keine Erotik, keine Romantik – nur die Logik von Angebot und Nachfrage.
Als neue Figur tritt Pentesilea auf, eine erfahrene Prostituierte, die Tersites einerseits bedroht, andererseits rettet. Ihr Name – eine Anspielung auf die Amazonenkönigin aus der Mythologie – symbolisiert Stärke im Untergang. Zwischen ihr und Etra entsteht später eine stille Solidarität: zwei Frauen, die gelernt haben, in einer von Männern zerstörten Welt füreinander zu existieren.
In einem brillanten Gespräch zwischen beiden zitiert Momán Baudrillard und Walter Benjamin: Über die „Klonung der Individualität“ und die „reproduktive Technik der Kunst“. Es ist kein gelehrter Einschub, sondern eine Reflexion über ihre eigene Lage. Beide Frauen erkennen, dass sie nicht identisch sind mit der „Masse“, die sich gleichschalten lässt. Ihre Freundschaft wird zur konkreten Utopie der Singularität.
Der Kreislauf der Wiederholung
Doch Momán gönnt dem Leser keine Erlösung. Alles wiederholt sich. Der Kommissar taucht erneut auf, Tersites’ Halluzinationen nehmen zu. Realität und Wahn verschwimmen.
In einer der surrealsten Szenen begegnet Tersites einem sprechenden Kater, der sich als Stimme des Systems entpuppt – ein digitales Phantom, das seine Gedanken überwacht. „Ich bin nur ein Bild in deinem Kopf“, sagt der Kater, „aber ich könnte dafür sorgen, dass alle mich sehen.“
Diese groteske, fast kafkaeske Passage ist zugleich komisch und erschütternd. Der Kater symbolisiert die totale Durchdringung des Bewusstseins durch Macht – eine Mischung aus Überwachungstechnologie und innerem Dämon.
Momán führt hier den Anfang des Romans zurück: Der „Realitätskonstrukteur“ ist nun buchstäblich in den Kopf des Protagonisten eingedrungen. Realität wird endgültig zur Simulation. Tersites rast, verfolgt von Wahnvorstellungen, mit dem Auto in eine Mauer – eine Metapher für das Ende des Bewusstseins.
Das letzte Mitleid
Der Schluss trägt den bezeichnenden Titel El miedo. La redención – „Die Angst. Die Erlösung“.
Tersites erwacht im Krankenhaus. Neben ihm sitzt Etra, die trotz allem zu ihm zurückgekehrt ist. Auf seiner Brust ruht ein schwarzer Kater – ob real oder imaginär, bleibt offen. Er spricht wieder, verspottet ihn, verkündet seine allgegenwärtige Macht.
Doch Etra bietet Tersites Wasser an, wischt ihm Blut von den Lippen, nennt seinen Namen. In dieser simplen Geste der Fürsorge liegt die einzige Form der Erlösung, die Momán gelten lässt: Menschlichkeit als Trotz, nicht als Sieg.
Das Ende bleibt offen, schwebend. Es gibt keine moralische Auflösung, keine Strafe, keine Rettung. Nur den Versuch, im Angesicht der Zerstörung zu bleiben. Die „diffuse Realität“ ist kein Ort, sondern ein Zustand – ein Nebel über dem Bewusstsein, in dem Wahrheit und Täuschung ununterscheidbar geworden sind.
Sprache als Widerstand
Formal ist La realidad difusa ein wilder, kompromissloser Text. Momán schreibt in langen, verschachtelten Sätzen, mit einem Rhythmus zwischen Bericht und Bekenntnis. Die Dialoge sind knapp, die Beschreibungen sinnlich, fast schmerzhaft konkret.
Seine Sprache verweigert jede Glätte. Sie zwingt den Leser, langsam zu lesen, zu verweilen, zu denken.
Er mischt Register: Alltägliche Dialoge stehen neben philosophischen Reflexionen, poetische Bilder neben behördlicher Terminologie. Diese stilistische Heterogenität ist kein Zufall, sondern Programm. Sie zeigt, dass selbst die Sprache durch Macht kontaminiert ist – und dass Widerstand nur in der Rückeroberung der Ausdruckskraft beginnen kann.
Ein Spiegel unserer Zeit
La realidad difusa ist kein Buch über die Zukunft, sondern über das Jetzt. Die digitale Manipulation von Emotionen, der algorithmische Populismus, die Entgrenzung von Arbeit und Identität – all das ist bereits Realität. Momán überführt diese Phänomene in Literatur, ohne moralisch zu dozieren.
Er fragt nicht, was uns täuscht, sondern warum wir uns täuschen lassen. In dieser Hinsicht erinnert sein Roman an Werke wie Don DeLillos White Noise oder José Saramagos Ensaio sobre a lucidez: Texte, die weniger warnen als entlarven.
Mománs Perspektive bleibt jedoch spezifisch iberisch – geprägt von der Erfahrung der Peripherie, von wirtschaftlicher Krise und sozialer Erosion. Seine Figuren leben in den Rändern Europas, zwischen Industriebrachen und Billigwohnungen. In ihnen spiegelt sich nicht nur Spanien, sondern der ganze Westen: erschöpft, zynisch, gleichzeitig süchtig nach Konsum und nach Bedeutung.
Ethik der Darstellung
Natürlich wirft die explizite Darstellung von Gewalt Fragen auf. Kann Literatur solche Szenen zeigen, ohne sie zu reproduzieren? Mománs Antwort ist klar: Ja, wenn sie den Schmerz nicht ästhetisiert, sondern verständlich macht.
Seine Beschreibungen provozieren kein Schaudern der Lust, sondern eine moralische Übelkeit. Der Leser soll nicht genießen, sondern erkennen. In dieser Hinsicht steht La realidad difusa in der Tradition des realistischen Engagements – von Zola bis Elfriede Jelinek.
Kontinuität und Radikalisierung
Wer Mománs frühere Werke kennt – etwa Lapamán oder Raro – erkennt sofort eine Linie. Immer schon interessierte ihn das Verhältnis zwischen Körper, Macht und Sprache. Doch La realidad difusa geht weiter.
Wo seine früheren Bücher mit Fragmenten und Andeutungen arbeiteten, baut dieser Roman eine geschlossene, fast allegorische Struktur. Es ist, als habe Momán all seine Themen – Prekarität, Identität, Gewalt, Medien – hier zu einem düsteren System verdichtet.
Ein notwendiges, unbequemes Buch
Es wäre falsch zu sagen, dieses Buch sei „angenehm“ zu lesen. Es fordert, überfordert, verstört. Aber genau darin liegt seine Bedeutung.
In einer Zeit, in der Literatur oft auf Unterhaltung reduziert wird, besteht Momán darauf, dass Lesen eine ethische Erfahrung bleibt – eine Begegnung mit dem Schmerz der Welt.
La realidad difusa ist ein Roman, der Fragen stellt, keine Antworten gibt. Wie viel Wirklichkeit können wir ertragen? Wie viel Lüge sind wir bereit, als Wahrheit zu akzeptieren? Und wo, in diesem Nebel aus Bildern und Begierden, bleibt das Menschliche?
Momán beantwortet diese Fragen nicht. Aber er zwingt uns, sie zu stellen – und das macht sein Buch zu einem der mutigsten Werke der aktuellen spanischsprachigen Literatur.
Schluss: Das trübe Spiegelbild
Wenn man La realidad difusa beendet, bleibt ein Gefühl zurück, das schwer zu benennen ist: Erschöpfung, vielleicht auch Klarheit.
Momán zeigt eine Welt, in der alles gleichzeitig sichtbar und unkenntlich ist – eine Welt, in der die Wahrheit nicht unterdrückt, sondern vervielfacht wird, bis sie ihre Konturen verliert.
Sein Roman ist kein Warnsignal, sondern ein Spiegel: ein trüber, fleckiger Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen müssen. Und vielleicht ist genau das seine größte Leistung – uns zu zeigen, dass das Schlimmste nicht in der Zukunft liegt, sondern längst hier ist.
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